Die Basler Schifferseelsorge im Wandel der Zeit

Ein Bericht des langjährigen Schifferseelsorgers Walter Schär

Ein Schiffer-Ehepaar kehrt nach dem Einkauf auf sein Schiff im Basler Rheinhafen zurück, Aufnahme von ca. 1970 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Witschi, Hans / Com_L23-0686-0002-0005 / CC BY-SA 4.0)
Ein Schiffer-Ehepaar kehrt nach dem Einkauf auf sein Schiff im Basler Rheinhafen zurück, Aufnahme von ca. 1970 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Witschi, Hans / Com_L23-0686-0002-0005 / CC BY-SA 4.0)

Die Anfänge, das Ende und der Wiederbeginn

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren von einer grossen Wirtschaftskrise geprägt. Davon war auch die Schifffahrt betroffen, was sich bis nach Basel ausgewirkt hat. Dort lagen in den dreissiger Jahren viele Schiffe mit Besatzungen, denen es materiell sehr schlecht ging und die z. T. am Hungertuch nagten. Damals gab es noch viele Schleppschiffer, die mit ihrer ganzen Familie als Kleinunternehmer auf ihrem (meist hoch verschuldeten) Schiff lebten und keine Arbeit und kein Einkommen hatten. Sie hatten in guten Zeiten ihre Schiffe verchartert und wurden von Reedereien angeheuert, die die Motorschlepper stellten, und Schleppzüge mit bis zu acht unmotorisierten Schleppschiffe hinter sich herzogen. Diese Art von Schifffahrt war damals vorherrschend.

Die Not solcher in der Regel ausländischer Schiffsleute, die in Basel gestrandet waren und nicht mehr weiter kamen, fiel kirchlicherseits zuerst der Stadtmission Basel auf, die am Giessliweg in Kleinhüningen einen Stützpunkt hatte. Der dortige Stadtmissionar wandte sich an die evangelische Landeskirche, weil es ihm klar war, dass hier eine grosse Aufgabe wartete, die über seine Möglichkeiten hinausging. Der damalige Kirchenratspräsident Dr. Koechlin hatte ein offenes Ohr für dieses Anliegen. Ihm war bekannt, dass in der evangelischen Kirche eine neue Berufsgattung geschaffen worden war: die männliche Diakonie, die jüngere, berufs- und lebenserfahrene Männer zu kirchlichen Sozialarbeitern (wie wir heute sagen würden) ausbildete. Als männliches Pendant zu den Diakonissen wurden die Diakone, die nach biblischem Vorbild so genannt wurden, in verschiedenen Arbeitsfeldern der Kirche eingesetzt. Früher war dies oft in der Funktion als sogenannte Gemeindehelfer, aber auch als Leiter von sozialen Institutionen, Fürsorger für Alkoholkranke etc. 

Dr. Koechlin, ein Freund von Pfarrer Dr. Wilhelm Bernoulli, Vorsteher der Ausbildungsstätte Evangelisch-reformiertes Diakonenhaus Greifensee, sah die Gelegenheit, einen Absolventen von dort in das Amt eines Gemeindediakons in der Kirchgemeinde Kleinhüningen einzusetzen mit dem Schwerpunkt Schiffermission, später Schifferseelsorge genannt. Diakon Rudolf Zürcher begann seinen Dienst 1937 und betreute diese Aufgabe bis zu seiner Pensionierung 1975. Ich, Diakon Walter O. Schär, der Verfasser dieses Berichtes, löste ihn ab und arbeitete an dieser Stelle bis zu meinem Weggang 1988. Meine Nachfolgerin war nurmehr kurz im Amt, und da im Zeichen der Sparmassnahmen der Kirche das Diakonat in Kleinhüningen gestrichen wurde, fiel auch die Schifferseelsorge dem Sparstift zum Opfer. Damit war die Zeit der kirchlich institutionalisierten Arbeit für die Schiffsleute in den Häfen beider Basel vorbei, denn auch die katholische Seite zog ihren Mitarbeiter bei dieser Gelegenheit zurück. Das änderte sich erst wieder im Herbst 2011, als ich, pensioniert und freiwillig, aber mit dem Segen der beiden Evangelischen Kirchen BS und BL, die Besuchstätigkeit in unseren Häfen wieder aufnahm.

Entwicklungen und Veränderungen

Die Arbeit des ersten Basler Schifferdiakons stand ganz im Zeichen der Linderung von sozialen und menschlichen Nöten im Zusammenhang mit den damaligen wirtschaftlichen Verhältnissen, die im Laufe der Kriegsjahre oft noch schwieriger wurden. Sie verbesserten sich doch allmählich mit dem Wiederaufschwung der Binnenschifffahrt nach den bösen Zeiten. Die Lebensverhältnisse der Schiffsleute und die ihrer Angehörigen veränderten sich nachhaltig. Es war wieder Arbeit und Brot da für Partikuliere und Reedereischiffer, und die Situation an Bord wurde durch die technischen Neuerungen erleichtert. Aber viele Grundprobleme, die eben die Schifffahrt mit sich bringt, blieben und sind heute noch vorhanden.

Die langen Fahrenszeiten, die zwangsläufig zur Trennung vom gewöhnlichen Leben führen, wie wir es als Landmenschen gewohnt sind, machen das Schifferdasein zu einer eigentlichen Doppelexistenz: Einerseits ist man rund um die Uhr zum Arbeiten, Essen und Schlafen auf eine kleine Welt fixiert, oft eingebunden in eine (heute meist multikulturelle) Männerzwangsgemeinschaft. Auf der andern Seite, in der Zeit an Land, ist man ein freier Mensch, der sich aber nicht wie die Andern regelmässig irgendwo engagieren und mitmachen kann. Das führt zu Problemen in allen Beziehungen, vorwiegend mit Partnern und Familienangehörigen. Eheleute werden so zeitweise getrennt, weil es nur noch wenige Ehepaare gibt, die zusammen fahren und die Väter fehlen dann zu Hause. Die Kinder, die früher oft zusammen mit der Mutter auf dem Schiff blieben, bis das älteste eingeschult werden musste, haben heute kaum mehr Platz an Bord. Obwohl heute auch Frauen vereinzelt in der Binnenschifffahrt tätig sind, ist dieses Gewerbe noch vorwiegend eine Männerdomäne. Die zusammengewürfelte Bordgemeinschaft erinnert mich stark an das Militär, weil auch hier eine strikte Hierarchie herrscht, die je nach Zusammensetzung mehr oder weniger menschlich gelebt wird. Das Individuum ist darin manchmal sehr einsam. Die Einsamkeit ist für viele Schiffer auch während der Fahrt eine Realität.

Zwar sind die Fahrzeiten heute bei den Reedereischiffern meistens viel kürzer, doch sind Schiffer und Seeleute oft Fremdlinge: Daheim, weil sie immer wieder wegmüssen, und unterwegs in wechselnden Mannschaftskonstellationen. Landgänge in den Anlaufhäfen sind häufig unmöglich oder nur kurz, und werden dann für Einkäufe von Lebensmitteln verwendet. Viel mehr liegt meistens nicht drin. 

Die Kirchen haben die Lebenssituation dieser soziologischen Randgruppe unterschiedlich wahrgenommen. Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben im Sinne ihres Diakonieverständnisses Ende des 19. Jahrhunderts damit begonnen, sich der See- und Schiffsleute anzunehmen: Wenn die Menschen nicht in die Kirche kommen – und manchmal können sie nicht – dann soll die Kirche zu ihnen gehen! So ist die Deutsche Seemannsmission und die Binnenschifferseelsorge entstanden. Die Basler Kirche hat 1935, wie erwähnt, nachgezogen. Leider ist dieser Arbeitszweig aus Spargründen gestrichen worden, bis ich (W.S.), wie bereits erwähnt, ihn erneut aufgenommen habe und nun seit Sommer 2015 zusammen mit meinem katholischen Kollegen Dr. Xaver Pfister wieder Schiffsbesuche mache. Seit 2019 ist der Theologe und Diakon Alex Wyss als Nachfolger von Xaver Pfister mir mir zusammen tätig.   

Auswirkungen auf die Arbeit in der Schifferseelsorge

War also am Anfang der Schifferseelsorger in Basel mit materiellen und existenziellen Nöten von seiner Zielgruppe konfrontiert, änderten später auch für ihn die Möglichkeiten, den hier für kürzere oder längere Zeit in unseren Häfen weilenden ausländischen Schiffsleuten gute Dienste zu erweisen. Neben der Funktion eines empathischen Gesprächspartners, der nützlichen Auskunftsperson und des Helfers für Fremde, die im Ausland ein Problem haben, organisierte Diakon Rudolf Zürcher auch Busfahrten zum Rheinfall und an den Vierwaldstättersee. Damals hatten die Schiffsleute oft lange Liegezeiten, auch über Wochenenden, und noch keine eigenen Autos an Bord wie heute. Und so konnte mein Vorgänger, dank Beziehungen zu einem Unternehmer mit Kleinbussen, kurzfristig solche begehrten Tagesreisen zu günstigen Bedingungen anbieten. Denn gerade der Besuch des Rheinfalls war und ist auch heute noch für viele Schiffer ein Must. 

Eine weitere grosse Aufgabe für Diakon Zürcher und auch mich war die Organisation der jährlichen Schifferweihnachtsfeiern jeweils am 25. Dezember (früher im heutigen Union, später im Kirchgemeindehaus Kleinhüningen). Da galt es zuerst, die erheblichen Mittel für die bis zu 200 Teilnehmenden bei Reedereien und Umschlagsbetrieben zusammenzubetteln, die freiwilligen Helfer für die Schiffsleute-Päckli (je unterschiedlich für Schiffsjungen, Matrosen, Schiffsführer und Schifferfrauen) aufzubieten und das Essen und ein Programm mit Posaunenchor und meist einem prominenten Gastredner auf die Beine zu stellen.

Daneben hat Ruedi Zürcher eine weitere Pionierarbeit geleistet: Es gelang ihm, für die früher sehr zahlreichen holländischen Schiffsleute monatliche Gottesdienste in holländischer Sprache in Kleinhüningen zu organisieren, was mit einem erheblichen Aufwand verbunden war.

Holländische Gottesdienste in Basel gibt es auch heute noch, in der Regel am letzten Sonntag im Monat in der Kapelle des Altersheims Wesley-Haus an der Hammerstrasse.

Unter anderem dafür sollte mein Vorgänger mit einem Orden von der damaligen holländischen Königin ausgezeichnet werden, was Diakon Zürcher aber als standhafter Demokrat dankbar ablehnte.

Holländische Gottesdienste für Schiffsleute gibt es übrigens heute noch regelmässig in Mannheim und in Duisburg. Und auch Schifferweihnachtsfeiern waren früher in allen grösseren Häfen am Rhein die Regel, weil auch dort Seelsorgestationen bestanden, die heute aber fast allesamt von den Kirchen eingespart worden sind. Die zahlreichen Schifferseelsorger katholischer- und evangelischerseits hatten je konfessionell getrennte und europäisch-ökumenische Dachorganisationen, wo Austausch und Zusammenarbeit gepflegt wurde. In Basel hatte die katholische Kirche kurz einmal einen holländischen Kaplan als Schifferseelsorger eingesetzt, der sich aber nicht gut mit meinem Vorgänger verstand und deshalb abgezogen wurde. Die Pfarrei St. Christophorus in Kleinhüningen lud später die Schiffsleute jeweils zu ihrem jährlichen Pfarreifest im Sommer ein und ab und zu machte der Sakristan Besuche bei ausgewählten katholischen Schiffern. Im Übrigen wurde das Feld Diakon Zürcher überlassen. Das änderte sich dann erst, als ich im Jahre 1974 die Diakonenstelle in Kleinhüningen antrat und damit auch mit der Schifferseelsorge betraut wurde. Ergänzend möchte ich hier noch etwas zur Fokussierung auf die ausländischen Schiffsleute bemerken: Die Schweizer Binnenschiffer gehen meistens sofort nach Hause, wenn sie hier ankommen.

Mit Schweizer Schiffsleuten, von denen es heute nur noch wenige gibt, hatte ich relativ selten direkten Kontakt auf den Schiffen. Sie gehen in Basel meistens sofort von Bord, wenn sie hier ankommen. Früher gab es sogenannte Ablöser, die sie an Bord vertraten, wenn dies zum Beispiel für das Verholen notwendig wurde. Den Schweizer Schiffsleuten bieten die Kirchen hier ihre üblichen Dienste an. Der Dienst der Schifferseelsorge ist in erster Linie ein Dienst an den «Fremdlingen», die schon dem alten Gottesvolk besonders ans Herz gelegt wurden.

Wie ich meine Arbeit begonnen habe 

Als ökumenisch eingestellter Christ war es mir von Anfang an ein Anliegen, die Schwesterkirche für dieses spezielle Arbeitsgebiet wieder ins Boot zu holen. So gelang es mir, nach etlichen Anläufen beim damaligen Oberhaupt der katholischen Kirche Basel-Stadt, Domherr A. Cavelti, einen Kollegen zu bekommen. Im Laufe meiner 14-jährigen Amtszeit in Kleinhüningen durfte ich diese Arbeit mit drei katholischen Mitstreitern teilen: zuerst mit dem Priester Gerhard Pfleger, dann mit Diakon Dr. Willi Rosch und am Schluss noch mit Pfarrer Kajo Gäs. Mit ihnen allen verband mich bald eine fruchtbare Zusammenarbeit auf freundschaftlicher Basis. Bei den Schiffsleuten wurden wir als Paar wahrgenommen und geschätzt, auch wenn wir (wie heute) nicht immer zusammen in den Häfen unterwegs waren. Wir wurden sogar mit dem Spitznamen «Dick und Doof» bedacht, was überhaupt nicht despektierlich gemeint war, sondern auf unsere äusserliche Erscheinung passte!

Ganz zu Beginn meiner Arbeit sollte ich jedoch die holländische Sprache lernen; dies war mir zur Bedingung gemacht worden war für diese Tätigkeit. Denn damals wie heute treffen wir bei unseren Schiffsbesuchen immer noch auf eine grosse Anzahl von Holländern. (Viele von ihnen sprechen zwar etwas Deutsch, doch auf Holländisch ist man viel schneller in einem vertraulichen Gespräch.)  

Holländische Schiffsleute waren früher vorherrschend auf den nach Basel fahrenden Schiffen anzutreffen. Heute sind sie in der Minderheit, denn neben Schiffsleuten aus Deutschland und manchmal auch Frankreich sind es mehr und mehr Schiffsleute aus den Oststaaten wie Polen, Rumänien, Tschechien, Ungarn, die in der Regel mindestens etwas Englisch sprechen. Und seit einiger Zeit sind auch immer wieder ehemalige Seeleute als Matrosen an Bord, die ebenfalls Englisch sprechen, zum Beispiel Philippiner. Wir haben sogar schon Seeleute aus Afrika an Bord von Tankschiffen angetroffen. Somit sind für eine gute Kommunikation auch Englisch- und Französischkenntnisse wichtig. 

Zu diesem Zweck durfte ich zuerst private Sprachstunden bei der Holländisch-Lehrerin an der Schifffahrtsschule Basel, mevrouw Goorhuis, nehmen und nachher noch einen dreimonatigen Sprachaufenthalt in Amsterdam machen. Dort war ich beim Pfarrerehepaar Siny und Gerard van Kamp zu Gast. Ich hatte die van Kamps auf einer europäischen Konferenz kennen gelernt, die ich noch zusammen mit meinem Vorgänger besuchen konnte. Gerard war einer der führenden evangelischen Binnenschifferseelsorger in Holland. Vormittags besuchte ich den Unterricht und nachmittags wurde ich in weiteren Privatstunden mit der holländischen Kultur und Kirchengeschichte vertraut gemacht. Und manchmal bin ich auch mit meinem Gastherrn auf Schiffsbesuche mitgegangen – standesgemäss mit dem Velo unterwegs zu und in den Häfen (was ich später auch in Basel so machte). Ausserdem lernte ich die Einrichtungen der Binnenschifferseelsorge katholischer- und evangelischerseits kennen (Gasthäuser, Kirchen, Schifferkinder-Internate) und konnte abschliessend auch eine Schiffswerft besuchen. Dieser Aufenthalt hat mich sehr geprägt und mir bleibende Freundschaften eingetragen. (Beziehungen mit Holländern in Basel und Umgebung ergaben sich auch durch meine Mitarbeit in den Nederlandse Kerkdiensten Basel, die mich auch sprachlich förderten).   

So vorbereitet ging es also los in diese für mich neue berufliche Arbeit, die mir nicht nur immer wieder wertvolle menschliche Begegnungen, sondern auch Ein-blicke in eine technisch interessante Welt bescherte. Ich wollte ursprünglich ja einmal ernsthaft Pilot werden, doch eine Farbenschwäche hat dies verunmöglicht. Es war für mich besonders spannend, die Entwicklung im Schiffsbau, wie auch in den Navigations- und Kommunikationsmitteln zu verfolgen und dabei deren Einfluss auf die Arbeitswelt zu beobachten. Speziell interessierten mich natürlich die Auswirkungen auf die Menschen, die von diesen Entwicklungen betroffen wurden.     

Was ich konkret gemacht habe

Im Vordergrund standen die wöchentlichen Schiffsbesuche zu festen Zeiten. So war ich jeden Freitagnachmittag in den Baselbieter Häfen unterwegs und am Samstag jeweils vor- und nachmittags in den Häfen von St. Johann und Kleinhüningen. Das war in meinem Arbeitsplan so eingeplant, denn die übrige Zeit war ich mit andern Aufgaben in der Kirchgemeinde betraut (Katechese, Sozial- und Jugendarbeit). In der Schifferseelsorge kamen dazu noch Kontakte zum Ausland mit Sitzungen im europäisch-protestantischen und ökumenischen Arbeitskreis mit den Kollegen weiter unten am Rhein. Und natürlich waren da auch Projekte wie die Schifferweihnacht zu realisieren, ebenso wie Beziehungen zu den hier ansässigen Reedereien, zu Umschlagsbetrieben und den Hafenbehörden und zur Schiffer-Gewerkschaft VHTL zu pflegen. Dazu wurde ich damals schon immer wieder etwa zu kirchlichen Veranstaltungen eingeladen, um über meine Tätigkeit zu berichten, war ich doch so etwas wie ein Exot in diesem Bereich. So pflegte ich auch Beziehungen zur Presse, nicht nur zur kirchlichen, sondern auch zu den Tageszeitungen.

Neben der Beziehungspflege mit meiner Zielgruppe, wo alltägliche und zwischenmenschliche Probleme vorherrschend waren, war mir vor allem die Arbeit in den europäischen Arbeitskreisen wichtig und wertvoll. Sie hoben mich über den Alltag und erweiterten meinen Horizont. Denn dort ging es nicht nur um pastorale Anliegen, sondern ebenso um die strukturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in der europäischen Binnenschifffahrt, die ja eben allesamt Einfluss haben und hatten auf die Fahrensleute. So beschäftigten wir uns in diesen Kreisen u.a. auch mit dem Problem der Überkapazitäten, den Abwrackaktionen und intensiv mit dem damals geplanten und umstrittenen Rhein-Main-Donau-Kanal. Alle zwei Jahre fanden je innerkonfessionell und ökumenisch Konferenzen zu solchen Themen statt, über die ich jeweils ausführlich im Evangelischen Pressedienst der Schweiz (EPD) berichten konnte. Zweimal war ich als Organisator einer je protestantischen und ökumenischen Konferenz in Basel engagiert. Erstere fand in der Evangelischen Heimstätte der Nordwestschweiz auf dem Leuenberg statt, die andere in Kleinhüningen.

Auch gute Beziehungen zur damals noch existierenden schweizerischen Schifffahrtsschule waren mir wichtig, konkret zu deren Leiterehepaar Vera und Pitt Rösler. So konnten mein Kollege und ich jeweils im Einführungskurs die neuen Schiffsjungen zu einem gemütlichen Abend einladen und sie mit unserer Arbeit vertraut machen. Daraus resultierte zum Beispiel eine von mir unternommene erfolgreiche Intervention für einen Schiffsjungen, der mit seinem Lehrmeister nicht klar kam und dann auf einem andern Schiff seine Ausbildung erfolgreich abschliessen konnte. In diesem Zusammenhang erwähne ich noch die Weiterbildungskurse für Kapitäne, deren Absolventen ich manchmal zu einem gemütlichen Gesprächsabend einladen konnte. So gäbe es hier noch manches zu berichten, was über die eigentliche Besuchsarbeit auf den Schiffen hinausging. Ein wichtiges Ereignis hier noch zum Schluss: die Einweihung des neuen Schiffermastes oben am Hafenbecken 1, wo ich die Festansprache halten durfte. Doch nun genug von Geschichten aus dem Umfeld – jetzt sollen endlich Besuchserfahrungen Platz bekommen!

Wie es mir dabei ergangen ist

Zunächst habe ich natürlich vor allem vom Goodwill profitiert, den mein Vorgänger erworben hatte. Denn ich konnte mich ja überall als Nachfolger vom beliebten und bekannten Diakon Zürcher vorstellen. Das waren natürlich ideale Voraussetzungen. So wurde ich, wenn es denn zeitlich möglich war (ich schneite ja unangemeldet herein!) häufig zu einer Tasse Kaffee oder Tee eingeladen, ent-weder ins Steuerhaus oder in die Wohnung. War es die Wohnung, hiess es, zuerst die Schuhe auszuziehen – das ist heute noch so. Dann wurde eben über Gott und die Welt geredet, oft auch über ein aktuelles Problem oder ein Bedürf-nis, bei dem ich vielleicht mit Rat oder konkreter Unterstützung helfen konnte. Ich hatte – und das halten Xaver Pfister und ich heute noch so – immer aktuelle Informationen von unserem Tourismusbüro dabei, mit Stadtplan und Ausflugsvorschlägen. Früher hatte ich auch stets die Informationen über aktuelle Busausflüge dabei. Zudem waren Informationen gefragt zu «Wie komme ich in die Stadt? Was finde ich wo?», auch «Wo finde ich rasch einen Arzt, Zahnarzt oder Coiffeur?» Dankbar nahmen viele auch meinen Vorschlag an für einen Spaziergang in die Langen Erlen oder zum Besuch der Wasserfallen, die man ja günstig mit dem ÖV erreichen kann (mit einer Seilbahn unweit von Basel auf einen Berg, das war sehr beliebt!). Oder auch den Rat, mit der Deutschen Bahn nach Schaffhausen zu fahren, um von dort aus den Rheinfall zu besuchen. Solche Dinge standen im Vordergrund. 

Aber es gab auch andere Situationen, wenn schwierige und traurige Probleme zur Sprache kamen. Hier möchte ich allgemein bleiben, um meine amtliche Schweigepflicht nicht zu ritzen. Denn da ging es oft um schwere Ereignisse wie zu, Beispiel Ertrinkungstod, andere Todesfälle und schlimme Krankheiten. Da galt es, seelsorgerlich zu wirken, manchmal auch mit einem gewünschten Gebet. Häufig ging es aber auch um Beziehungsprobleme, um die Sorge der Zukunft für die Kinder oder Fragen des Alterns und des «Wie weiter» in den Ups und Downs der wirtschaftlichen Entwicklung in der eigenen oder der gesamten Situation im Schifffahrtsgewerbe, das ja ein Konjunkturbarometer darstellt. 

Für die holländischen Schiffsleute hatte ich früher auch religiöse Literatur dabei, die ich von meinen niederländischen Kollegen zugeschickt bekam, und die bei vielen sehr beliebt war. Konkrete kirchliche Dienste hatte ich, mit Ausnahme von einer Trauung und zwei Beerdigungen, wenige. Sie waren und sind primär den zuständigen Pfarrern vorbehalten, also nicht in meinem Kernbereich. Einmal hatte ich aber kurzfristig einem Schifferkind zu einer Taufe zu verhelfen. Es war ein sowohl in der Konfession wie in der Nationalität gemischtes Ehepaar, das an einem Samstagabend mit einer ungewöhnlichen Bitte an mich herantrat: Weil es in den Herkunftsfamilien Krach gab, wo und wie der Säugling getauft werden sollte, wurde ich um Hilfe gebeten. Sie wollten das Kind im Ausland taufen lassen. Ich ging mit dem Anliegen umgehend zu unserem Pfarrer Wenger, der am kommenden Sonntag den Gottesdienst in Kleinhüningen hielt. Er war sofort damit einverstanden, dies zu tun. Und so erhielt der kleine Erdenbürger seine Taufe in unserer schmucken Dorfkirche, wo meine Frau und ich als Taufpaten eingesprun- gen sind – zur grossen Freude der dankbaren Eltern und auch meinerseits!

Einige Müsterchen zum Schluss

Die Kaffeelöffel-Geschichte

Bei einem meiner ersten Besuche auf einem holländischen Schiff wurde ich freundlich ins Steuerhaus gebeten und zu einem Kaffee eingeladen. Dort war die ganze Mannschaft versammelt. Mir wurde der Kaffee mit Zucker und Milchpulver samt einem Kaffeelöffel gereicht. Ich rührte in der Tasse und leckte dann das Löffeli ab. Dabei erntete ich verdutzte Blicke, denn es war der einzige Kaffeelöffel im Steuerhaus, der sonst von Tasse zu Tasse die Runde machte! Es war mir peinlich, aber die Geschichte löste sich in Minne auf. Ich habe jedoch später darauf geachtet, dass mir so etwas nie mehr passierte! 

Wahrheit aus Kindermund

Auf einem Schiff mit einem jungen holländischen Paar wurde ich ins Wohnzimmer gebeten und wartete auf einem bequemen Sofa auf meinen Kaffee. Da kam der kleine Knirps der schlanken Eltern auf mich zu, musterte mich von der Seite und sagte: «Wat een enorme buik heeft die meneer!» Die Schiffsleute wurden ganz verlegen und wollten sich entschuldigen. Ich winkte ab – der Kleine hatte ja nur die Wahrheit gesagt!

Mücken-Stopp

In einem heissen Sommer gab es im Kanal unterhalb von Basel eine grosse Mückenplage, die besonders Müttern mit Kleinkindern grosse Sorgen machte. Die Wohnungen, damals noch ohne Klimaanlage, wurden zum Teil bis zu 40° heiss. So wurden natürlich alle Fenster stets offen gehalten, weil der Fahrtwind etwas kühlte. Aber trotz Mückengitter und Moskitonetzen war es unmöglich, die Biester von den Kinderzimmern fernzuhalten, wo sie die wehrlosen Babys plagten. Ich hatte damals immer Mücken-Stopp dabei, jene Elektrostecker mit Einsatz, die die Mücken wirksam vertreiben. Das war für viele eine grosse Hilfe.

Die G-Saite

An einem späten Samstagnachmittag fuhr ein Schiff in den Hafen ein, das ich schon lange einmal besuchen wollte, was aber bislang nicht glückte. Ich ging noch schnell hin, um mich vorzustellen. Eine attraktive Blondine, wie es sich herausstellte die Kapitänsgattin, öffnete mir. Nach einigen Worten sagte sie zu mir: «Bei dem Problem, das ich habe, können Sie mir nicht helfen!» Was es denn sei, fragte ich. «Ich bräuchte unbedingt eine G-Saite für meine Gitarre, aber da müsste ich in die Stadt und die Läden haben doch schon geschlossen!» «Kein Problem», sagte ich, «warten Sie kurz!» Mit dem Velo fuhr ich schnell nach Hause, holte das Gewünschte und brachte es an Bord. (Für die Jugendarbeit musste ich damals Gitarre spielen lernen und hatte dabei immer einen Satz Saiten vorrätig). Aus dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine lange Freundschaft mit ihr und ihrem Mann, der leider kurz nach seiner Pensionierung verstorben ist. Die Frau war, wie ich später erfuhr, eine ehemalige Weinkönigin. Sie lebt heute als Witwe auf der Loreley. Darum sage ich: Ich kenne die Loreley persönlich!

«Sie haben uns gerade noch gefehlt!»

So empfing mich ein Schiffer im Auhafen an einem Freitagnachmittag im Maschinenraum. Ich ging dort hinein, weil ich von dort Stimmen hörte. Ohne lange zu überlegen entgegnete ich ihm: «Dann ist es ja gut, dass ich gerade da bin!» Das war wohl eine spontane Eingebung. Wir mussten beide lachen und das Eis war gebrochen! Ich konnte den Mann nur zu gut verstehen. Er hatte seine Familie in Mannheim, freute sich auf ein kurzes Wochenende zu Hause und jetzt lag er mit Maschinenschaden fest. Er musste an Bord bleiben, mindestens bis die Monteure den Schaden behoben hatten. Ich gab ihm einige Informationen, wie er seinen unfreiwilligen Aufenthalt ein wenig auflockern konnte. Unsere späteren Begegnungen waren dann stets erfreulicher Natur, und jedes Mal erinnerten wir uns schmunzelnd daran, wie wir uns kennen gelernt hatten!

Dieses «Sie haben uns gerade noch gefehlt!» interpretiere ich im eigentlichen Sinne, denn ich glaube wirklich, dass (vor allem) wir «Berufschristen» im gewöhnlichen Leben unserer Mitmenschen präsent sein sollen. «De kerk moet bij de mensen!» – so habe ich es einmal von einem Gesprächspartner gehört. Oder auf gut Schweizerdeutsch: «D’Chile mues under d‘Lüüt!» Diesen Grundsatz hat uns jener beispielhaft gezeigt und mit wahrer Mitmenschlichkeit vorgelebt, dessen Namen wir als Christen tragen. Und darum engagiere ich mich nicht nur, besonders aber auch, in der Schifferseelsorge – solange es mir möglich ist!

Mit Schiffergruss                                             

ALLZEIT GUTE Fahrt – IN GOTTES NAMEN!

Walter O. Schär, Diakon em.

Pratteln, im Januar 2019