«Man muss auch loslassen können»

Thema «Veränderung»: Was hätten wohl die mozaik-Leserinnen und Leser zu diesem Thema zu erzählen? Welche Veränderungen beschäftigen sie? Wie gehen sie damit um? Benno Gassmann hat sich umgehört. 

Erwartungsgemäss erhielt ich auf meine Anfragen viele Absagen: «Keine Zeit»; «bin zu schüchtern»; «will mich nicht exponieren». Vor allem bei Jüngeren blitzte ich ab. Ein paar Personen aber machten mit. Einige sogar mit Foto! Andere lieber anonym. Mitgemacht haben: Ahmed (29), Anita (62), Dieter (70), Isabelle (67), Maria (33), Martin (39), Max (71), Rolf (66), Ziona (77). 

Meine Frage war jeweils: Inwieweit ist «Veränderung» für dich ein Thema?

Die Palette der Antworten reicht von ganz persönlichen Erlebnissen bis zur Nennung  gesellschaftlicher Themen. Auch auf die Frage, wie sehr man Veränderungen fürchtet oder im Gegenteil liebt, oder wie man damit umgeht, fielen die Antworten ganz unterschiedlich aus. 

Stadt und Quartier

Ziona: «Die Stadt verändert sich: Es gibt immer mehr Türme, man sieht immer weniger Himmel.» 

Martin: «Ich mache mir Gedanken zum Quartier. Viele Menschen, die früher hier lebten, mussten wegziehen, weil z. B. die Miete zu teuer wurde. Man spürt einen starken Druck auf die, die hier wohnen. Das Quartier ist nicht mehr familienfreundlich. Da ziehen dann viele ins Baselbiet. Vor 15 Jahren noch konnte man mit 2000 Fr. fast eine «Villa» mieten, und heute kommt eine Familie kaum mehr damit aus. Die Löhne sind ja nicht entsprechend gestiegen. Und Kinder: Schon lange können sie nicht mehr auf der Strasse spielen. Man muss ausweichen auf Spielplätze. Aktuell bald die Riesenbaustelle bei der Dreirosenbrücke! Das macht schon Angst, was da auf uns zukommt. Zehn Jahre Baustelle, fast vor der Nase!»  

Max: «Dass Leute hier wegzogen, habe ich mit einem lachenden und zwei weinenden Augen gesehen. Jetzt kommen da so altbackene Leute rein, die nur ihre Ruhe haben wollen …» 

Martin treffe ich zusammen mit seinen Kindern am Rheinufer-Badestrand. Er erwähnt Veränderungen an der Rheinpromenade: «Früher traf man hier Leute aus dem Quartier. Jetzt kommen sie aus ganz Basel und sogar von weit her, von Frankreich und Deutschland. Früher war hier am Rhein so etwas wie ein Quartiertreffpunkt, jetzt kenn ich kaum mehr jemanden.» 

Gesellschaft, Klima! Krieg!

Martin: «Klimawandel ist ein grosses Thema. Davon hat man schon lange gesprochen, aber jetzt spüren wir es: Heisser Sommer, komischer Winter, fast kein Schnee mehr in Basel.» 

Max: «Es ist positiv, dass man die Klimaveränderung endlich wahr nimmt. Du siehst Bäche, die austrocknen! Das hat man ja jahrelang nicht wahrhaben wollen. Und es hocken noch heute Leute in der Regierung, die man vor die Türe stellen sollte … Schliesslich kann jeder selber etwas beitragen! Jetzt die Hitze! Da muss man sich halt einrichten mittels Zeitplanung!»  

Ziona: «Dieser schreckliche Krieg! Unser Umgang damit: Dass man mit manchen Leuten gar nicht mehr darüber reden kann ohne Streit zu bekommen.» 

Dieter: «In den letzten 40 Jahren sind ganz neue Themen aufgekommen: Umweltschutz im Kleinen, in der Familie. Wie verhältst Du Dich beim Einkaufen? Was kaufst Du wo ein? Woher kommen die Waren? Heute all der «Grümpel» in den Läden, zudem plastikverpackt. Knoblauch aus China, das ist ja Wahnsinn! Positiv aber auch: Neue Genossenschaften, Läden wie «Unverpackt».» 

Maria plädiert für Handeln statt nur Schwatzen: «Wenn alle weitergemacht hätten, was sie schon von den Grosseltern gelernt hatten, wäre alles viel besser. Es ist zu bequem geworden in der Schweiz. Alle hocken hinter ihrem Handy, surfen im Internet und tun nichts. Das Internet hat ja rundum so vieles verändert …»

Dieter: «Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wird wieder um Positionierungen gerungen: Über unsere Energieabhängigkeit von autokratischen Staaten, unsere Hilfeleistungen, Solidarität … Was bedeutet «Neutralität»? Was sind eigentlich die sogenannten «unsere Werte»? Und das betrifft auch die Medizin. Diesbezüglich war ich schon lange ein «Querschläger», hielt mehr von alternativer statt von konventioneller Medizin. Bin damit gut gefahren, auch in der Coronazeit!»

Persönliche und berufliche Erfahrungen

Für Personen, die beruflich mit Menschen arbeiten, im sozialen oder therapeutischen Bereich, ist Veränderung ein Dauerthema.

Anita: «Wir arbeiten mit Problemsituationen, wo es darum geht zu schauen, wie wir Situationen positiv verändern können, so dass es den Betroffenen leichter geht. Aber da sind auch Veränderungen im eigenen Leben: Wenn die Kinder grösser werden und ausziehen. Ich war lange Zeit mitten drin in der Familie. Jetzt ziehen die Kinder aus. Es tauchen neue Fragen auf: Jetzt werde ich älter, wie sieht das dann aus? Wie werde ich einmal wohnen? Allein oder mit andern?  Ich sehe: Da stehen Veränderungen an! Es wird wieder mehr Zeit geben ausserhalb meiner Arbeit. Wie gehe ich damit um? Ein Lebensabschnitt geht zu Ende. Ich muss das wieder neu in die Hand nehmen. Das ist nicht so einfach.» 

Rolf erzählt von einer prägenden Veränderung durch eine Krankheit, die vor sieben Jahren sein Leben völlig umgekrempelt hat: «Doch ich bin dankbar, dass es mir gelang, nicht in eine Verbitterung hineinzurutschen, sondern dass ich jetzt – einfach mit eingeschränkten Möglichkeiten  –  das Leben doch geniessen kann.» 

Max: «Und dann merkst Du, dass Du älter wirst. Magst nicht mehr so rumspringen. Bin selber nicht mehr so gelenkig, habe Mühe mit Gehen. Das fährt mir in den Rücken. Darum fahre ich Velo.» 

Anita: «Meine Mutter ist vor einem Jahr gestorben. Da realisierte ich: Ja, da geht etwas zu Ende. Das Leben geht anders weiter. Ich habe jetzt keine Eltern mehr! Ich bin die Nächste! Das gibt einen andern Blick auf das Leben. Existentielle Themen kommen, die schwer sind. Aber sie bringen neue Ideen und lösen Veränderungen aus.»  

Wie reagieren auf Veränderung?

Ahmed reflektiert, was das Wort «Veränderung» bei ihm auslöst: «Angst, viel Angst, wenn da Neues kommt, das ich noch nicht kenne. Dass ich keine Kontrolle mehr habe, keinen Plan, was ich machen soll. Auch Neugierde ist mit dabei. Konkret ist im Moment nichts in meinem Leben, das mir Angst macht. Ich mache seit langem den gleichen Job, lebe den gleichen Alltag. Damit kann ich gut leben. Ich schätze ja auch eine gewisse Bequemlichkeit…» 

Anita: «Veränderungen bedeuten, man muss auch loslassen können!»

Isabelle: «Wir leben in einer Zeit, in der sich alles sehr schnell und immer schneller verändert. Es gibt Veränderungen, da findet man, wow, das ist toll, jetzt geht endlich etwas. Veränderungen kommen  jedoch meist mit Krisen, körperlich oder seelisch. Da kann man dagegen revoltieren, mit Gedanken wie: «So ein Scheiss!».  Aber man kann auch die Herausforderung annehmen. Dabei hilft das tiefe Vertrauen, dass alles gut kommt. Leute, die ich wegen Corona behandelte, sagten mir nachher, dass sie näher zu sich selber gefunden hätten. Oder dass sie  sich nach genügend Erholungsphase wie «neu geboren» gefühlt hätten, mit neuen Ideen für ihr Leben.»

Glücksmomente

Anita: «Ich spüre in mir so etwas wie Vorsicht angesichts der vielen riesigen Veränderungen, die von aussen kommen: Umwelt, Klima, Gesellschaft. Jetzt auch die Kriegssituation, die vieles auslöst. Wir können nicht wissen, was auf uns zukommt. Mit so offenen Veränderungen umzugehen finde ich schwierig. Doch das Wichtigste für mich ist, zu schauen, wie ich mit meinem Leben umgehe, mit meiner Umgebung, mit meinen Mitmenschen. Irgendwann habe ich mir gesagt: Auch wenn es schwierig wird, gibt es immer wieder Glücksmomente, die ich sammeln kann. Z. B. in dem ich mich mit Freunden treffe. Wir verbringen einen schönen Abend zusammen und erleben die Freude des Zusammenseins. Oder ich gehe spazieren, finde in der Natur etwas, das mich anspricht, was mich freut und merke dabei, wie gut das tut! Ich denke, die grossen gesellschaftlichen Veränderungen, da kann ich meinen kleinen Teil dazu beitragen. Aber die sind so riesig! Da schaue ich, dass ich das gute Gefühl trotzdem behalten kann und mich nicht mit zu vielen schlechten Nachrichten belaste.» 

Hoffnung

Rolf: «Eine ganz persönliche Veränderung in meinem Leben: Ich war 25 Jahre als Spitalseelsorger tätig. Ein gesundheitlicher Zusammenbruch machte mich berufsunfähig. Ich versuchte immer wieder den Einstieg, aber es ging einfach nicht. Medizinische Abklärungen ergaben schliesslich eine klare Diagnose: Ich war von einer sehr seltenen Autoimmunerkrankung betroffen. Bald danach erlebte ich eine zweite Veränderung, die mich aus dem Gleis warf: IV und Pensionskasse (PK) akzeptierten diese Diagnose nicht! Obwohl mein Hausarzt mir bestätigt hatte, dass ich 100 Prozent arbeitsunfähig sei mit meiner Diagnose, fanden IV und PK, ich sei 100 Prozent arbeitsfähig! Meine Krankheit stand offenbar nicht auf ihrer Liste. Somit erhielt ich keine Versicherungsleistungen! Mein Vertrauen auf eine soziale Absicherung in unserer Gesellschaft wurde dadurch nachhaltig erschüttert. Ich wurde dann zwangspensioniert,  und dies zu einem deutlich tieferen Umwandlungs-Satz, und ich musste mein Leben nochmals völlig neu organisieren. Unter anderem mit Tätigkeiten wie dem Transport der mozaik-Zeitung von der Druckerei in Aarau nach Basel sowie der Buchhaltung für den mozaik-Verein! Das ist gut so!»

Kranksein

Isabelle: «Ich bin Heilpraktikerin, Homöopathin und begleite Menschen therapeutisch. Da geht es sehr oft um Veränderungen. Das ist die einte Ebene. Die andere betrifft Veränderungen an mir selber. Ich befinde mich eigentlich ständig in einem Veränderungsprozess, seitdem ich mich erinnern kann. In der Fähigkeit zu Veränderung liegt eine grosse Heilpotenz. Die Coronazeit ist so ein Beispiel. Das habe ich in der therapeutischen Arbeit gemerkt, auch bei mir selber! Das Kranksein war überhaupt nicht lustig, war Herausforderung. Ich habe den KlientInnen – dann auch mir selber! – immer gesagt: Schau, was es für Dich bedeutet! Was ist der Schritt, den Du tun musst? Kannst Du Veränderungsmöglichkeiten akzeptieren? Das gilt ja für jede Krankheit. Kranksein bedeutet immer: Innehalten und fragen: Was bedeutet es für mich? Was will mir diese Krankheit sagen? Ich kenne jemanden, der vor vielen Jahren Krebs hatte. Und wenn man ihn heute danach fragt, antwortet er, dass er in der Krankheit, die natürlich überhaupt nicht schön war, den seelischen Grund für  den Krebs erkannt habe. Und dass er die Erfahrung dieser Krankheit nicht missen möchte! Das finde ich weise!»